BREIER, STANISLAW

   

EIN FRONTWUNDER

Während des letzten großen Krieges lebte ein Mädchen mit den blauesten Augen der Welt.
Eines Tages sprach in der Schule ihre Lehrerin:
„Kinder, morgen gehen wir ins Hospital verwundete Soldaten besuchen. Wir singen für sie Lieder und tragen Gedichte vor. Lasst uns den Verwundeten ein nützliches Geschenk mitbringen: Warme Socken oder Handschuhe. So werden sie sich freuen, schneller gesunden und wieder an die Front fahren, um den Feind zu bekämpfen.“
Am nächsten Morgen traten die Schüler im Spital mit einem Konzert auf.
Die Soldaten hörten zu, lächelten und nahmen Geschenke entgegen: Einige - Wollsocken, die anderen – Handschuhe, auch Taschentücher.
Da näherte sich das Mädchen mit den blauen Augen einem älteren verwundeten Mann und sagte:
„Ich habe für Sie, Onkelchen, ein anderes Geschenk. Socken und Handschuhe hat ein jeder, aber so etwas hat niemand…“
Sie überreichte ihm eine Schachtel, schön bunt bemalt.
„Was ist hier drin?“, fragte der Soldat.
„Das ist keine einfache Schachtel, Onkelchen, darin befindet sich…“, das Mädchen
stellte sich auf Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: „Hier lebt ein Regenbogen drin.“
„Ach, nein!“
„Doch, wirklich!“ sprach sie aufgeregt. „Ich habe ihn selbst aus farbigen Bändern zusammen genäht. Nur öffnen dürfen Sie es vorerst nicht. Öffnen Sie die Schachtel erst dann, wenn Sie große Angst haben. Dann geschieht ein Wunder.“
Der Soldat steckte die Schachtel in eine Brusttasche und küsste das Mädchen auf die blauen Augen.
„Versprechen Sie mir, die Schachtel bis zum richtigen Moment nicht zu öffnen!
Sie sprach so feurig, dass er ganz ernst antwortete:
„Gut, ich verspreche…“

… Bald wurde der Soldat gesund und kehrte an die Front zurück. Dort wütete der eisige Winter. Der Wind blies den Menschen an beiden Frontseiten ins Gesicht. Jeder suchte ein Versteck, das es aber nicht gab.
Die deutsche Armee bereitete einen massiven Sturm vor, schoss aus allen Kanonen.
Den sowjetischen Soldaten waren plötzlich die Patronen ausgegangen. Nun bekamen die Wehrlosen sehr große Angst.
„Blauäugiges Mädchen!“, dachte der Soldat. „Wenn deine Schachtel doch wirklich ein Wunder vollbringen könnte!“
Er wollte vor seinem Tod doch sehen, was sich in der Schachtel befindet, die er – wie auch versprochen – nicht geöffnet und immer an der Brust getragen hatte.
Er holte sie hervor und öffnete sie. Drinnen fand er einen aus sieben Farbbändchen genähten Regenbogen. Ein Stoffregenbogen…
Der Soldat hob das Gesicht zum Himmel, bekreuzigte sich und betete darum, dass Gott ihm und seinen Kameraden Rettung vor dem sicheren Tod schenke.
Da sandte Gott ihm einen Funken. Dieser Funke flog zur Erde durch Wolken, starken Wind und Schneefall – nichts konnte ihn aufhalten. Er traf direkt in die Schachtel und auf den Stoffregenbogen. Der Soldat erschrak vor Verwunderung und Freude. Der Stoffregenbogen erleuchtete – und erwachte zu einem echten. Regenbogen. Er bewegte sich, schlüpfte aus der Schachtel heraus und wuchs empor.
Ringsum tobte der Krieg – hier breitete sich aber ein Regenbogen aus und wuchs. So erreichte er aus diesem Schützengraben den Himmel und neigte sich an der anderen Frontseite  zu den deutschen Kampfstellen. Unser Soldat hielt die Schachtel, in der der Regenbogen seinen Anfang hatte, in seiner Hand. So ein helles siebenfarbiges Leuchten verbreitete sich in der ganzen Luft, dass die Soldaten – sowjetische und deutsche – sogar die Augen zusammenkneifen mussten. Der Kampf legte sich. Es wurde warm, der Schnee schmolz, neues Gras sprießte aus der Erde, Vögel begannen zu singen.
Das war aber noch nicht alles!
Das Leuchten berührte die Soldaten von beiden Seiten, und die verbissenen Erwachsenen verwandelten sich, einer nach dem anderen, in fröhliche Kinder zwischen drei und fünf Jahren. Sie befreiten sich von den Soldatenmänteln und liefen nackt zum Regenbogen, blinzelnd und fröhlich lachend. Unser Soldat verwandelte sich auch in ein Kind. Er legte die Schachtel mit dem Regenbogenanfang schnell in den Schützengraben und kletterte als erster auf den Regenbogen. Da bemerkte er, dass man im Regenbogen wie in einem Fluss schwimmen konnte. Die Gefahr zu ertrinken gab es dabei aber nicht. Dabei duftete der Regenbogen, und jede Farbe duftete herrlich anders. Die Kinder tauchten und schwammen in ihm hoch und herunter bis in die Schützengräben, in denen jetzt hohes Gras wuchs. Sie schnupperten lustig aneinander, weil sie jetzt alle durch den Regenbogen wie verschiedene Blumen dufteten.
…Da kam ein deutscher General und begann zu schimpfen, warum seine Soldaten denn nicht kämpften, er wollte sogar jemanden für diese Unordnung erschießen.
Von der anderen Seite kam ein sowjetischer General.
„Was ist denn hier los?!“, sprachen die Generäle an beiden Frontseiten mit tiefer Stimme, als sie statt der Soldaten Kinder sahen.
In diesem Moment aber berührten die Regenbogenstrahlen die Generäle, und verwandelten sie auch in kleine Jungen. Nackt liefen sie beide – jeder von seiner Seite – auf den siebenfarbigen Regenbogen am Himmel zu.
So freuten sich die ehemaligen Feinde den ganzen Tag, und ihr lautes unbeschwertes Lachen klang in der ganzen Welt…

Aus dem Russischen übersetzt von Helene Abrams